Jetzt ist Herbst. Mein Tee-Konsum ist rapide gestiegen. Earl Grey „Lady Grey“ mit Orangenschalen. Philosophen-Grüntee. „Beduinenschreck“ – entkofeeinierte Nana-Minze. Hätte ich den Tee nicht bei meinem Lieblingsteeladen um die Ecke gekauft, würde ich vielleicht einen kleinen aufgeregten Gedanken darauf verschwenden, dass heute alles irgendwie abgefahren heißen muss, damit es sich verkauft. Aber das ist Bullshit. Den Teeladen gibt es da seit weißichnichtwielang und die Tees hießen immer schon so. Außerdem werde ich nicht auf den Aldi-Zug aufspringen und ein Loblied auf die Einfachheit singen. Lülülü, Finger in die Ohren, will ich gar nicht hören. Auswahl ist was Gutes. Gleichmachung ist scheiße. Singularitär ist Einfachheit im Kopf. Das ist pauschal und einfach. Subjekt-Prädikat-Objekt. Einfache Sätze versteht jeder. Dafür bin ich ja auch zu haben. Verständlichkeit und Einfachheit, das ist wie Turnschuhe und Pantoffeln. Beides irgendwie bequem, aber doch zwei Paar Schuhe.
Ich habe mich verheddert. Eigentlich wollte ich beim kleinen aufgeregten Gedanken bleiben. Gerade habe ich ein bisschen Zeit. Ein bisschen Semesterferien sind noch da, alle Hausarbeiten sind geschrieben, ich mache Hausarbeit. Aufräumen, putzen – ich habe ernsthaft über einen Fensterputz nachgedacht. Dann habe ich gekichert, in den schlierenfreien Badezimmerspiegel geguckt und gedacht: „Echt jetzt? Fensterputzen?“
Das ist keine besonders spannende Geschichte. Es gibt auch keine Pointe. Die Fenster sind dreckig gelieben.
Es ist gerade alles ganz schön unaufgeregt hier. Hin und wieder wirble ich Staub auf, rüttle ihn wach und verjage ihn. Sogar meine Buchrücken habe ich abgewischt. Meine alten Tagebücher sind mir in die Hände gefallen. Das ist Quatsch. Die fallen nicht. Die stehen auf dem obersten Regalbrett, kriegen den meisten Staub ab, weil darüber nur Luft nach oben ist. Aber ich habe sie alle nochmal in die Hand genommen. Mir war immer wichtig, dass sich das gut anfühlt, worein ich schreibe. Am schönsten sind die Tagebücher, die an den Ecken abgegrabbelt sind, wo ein bisschen Sand rausrieselt oder die nach Regionalexpress riechen. Manchmal stelle ich mir vor, wie sich die ganzen Versionen von mir zum Kaffeeklatsch treffen und sich was aus dem Nähkästchen erzählen. Die Zwölfjährige ist total verdreht und genervt. Die Vierzehnjährige macht unfassbar unlustige Kommentare und meint jeden Satz ironisch. Die Achtzehnjährige ist ziemlich aufgeregt und will von der Welt umarmt werden. Die Zwanzigjährige hat die Welt umarmt.
Mir ist schon klar, dass ich viel zu jung bin für solche Sentimentalitäten. Wie lange hat man „das Leben“ noch vor sich? Das Leben. Was das überhaupt wieder sein soll. So viel mehr als das Gegenteil von Tod. Definitionen helfen nicht weiter. Das Leben mit Inhalt füllen? Weiß nicht. Bei einer Radtour durch Mecklenburg habe ich die Wahlplakate der CDU ziemlich ausgelacht. Da lachte einen die bunte Melange der regionalen CDUler an und darunter der Slogan „Mehr Inhalt!“. Inhalt an sich ist es wohl auch nicht, was aus Leben Leben macht.
Ich kann so viel aufzählen, was Leben nicht ist. Oder was darin nicht wichtig ist. Oder zumindest nicht für mich. Aber hä? Zum Donnergrummel. Es muss doch was geben, was für alle Menschen „das Leben“ ist. Tädä- erwischt. Ich wünsche mir Einfachheit. Zack, padauz, eine Antwort. Dabei ist es mir eine innere Zartbitterschokolade-ganze-Haselnuss, dass es viele Antworten gibt, wenn ich mal ehrlich bin.
„Wirrer Gedanke, wirrer Satz“, sagst du und nippst an deinem Rotwein.
„Hä, na und? “
„Ich mein ja nur..“, dein linker Zeigefinger fährt an der Maserung des Esstischs entlang. Mit dem linken Zeigefinger, denke ich, ungewöhnlich, für einen Rechtshänder, „…Ich mein, zuerst bist du so voll für Vielfalt und Auswahl und auf einmal willst du exakt eine Antwort auf das Leben. Und über haupt. Tee und Hausputz und große Fragen, das passt doch alles nicht zusammen. Dann auch noch dieses Unterbrechen der wörtlichen Rede mit der Zeigefinger-Nummer, was soll das denn bringen, hm?““Ha! Buuuh!“, mit Schwung ergreife ich dein Weinglas wie einen Pokal und gieße dir den Inhalt über den Kopf. Denn du bist langweilig und brauchst Erfrischung im Kopf und nicht Einlullerei und Einfalt. Einfälle brauchst du und Anstoß. Abstoßen von Eingefahrenem.
„Du bist ein Triangel-Solíst!“, rufe ich in Ätschi-Kolätschi-Singsang, „Du kannst nur einen Ton und mit mehr wärst du wohl überfordert, hm? Du hast drei Ecken, wie mein Hut, aber du benutzt immer nur eine Seite. Aus Gewohnheit? Aaach, du bist öde. Fad!“
„Deine Metaphern sind dermaßen überzogen!“
„Ja. Mit Schokolade!“
„Komm ey, ist spät. Und mir klebt überall Wein im Gesicht. Danke dafür“, jetzt guckst du wirklich angepisst. Hupsi. Ich verstehe schon. Nächstes Mal gibt es wieder Tee. Für dich Kamille. Ich nehme „Karl Heinz – der Herbsttee“.