Existenzialisieren

Wir laufen am Strand entlang. Ich entdecke einen Fischkopf. „Guck mal“, zupfe ich an deiner Jacke. „Hm? Oh.“ Wir gucken den Fischkopf an. Er liegt ziemlich schön da. So silbrig-glänzend, dass man fast weinen möchte. Einfach, weil man sich keinen Schmuck daraus machen kann, der nicht nach fünf Minuten anfängt zu müffeln. Außerdem möchte ich weinen, weil der Fisch tot ist. Das ist eine große Albernheit, die mir hin und wieder widerfährt, wenn ich an Totem vorbeikomme. So oft passiert mir das aber auch gar nicht. Oder ich bekomme es zumindest nicht mit. Den Gedanken „In mir stribt gerade etwas“ denken sicherlich viele Menschen, ohne das ich je etwas davon mitbekäme. Selbst wenn ich in der Bibliothek direkt neben dem verzweifelten Menschen sitze. Oder sich in der Stopf-Bahn unsere Ellebogen berühren. Oder ich dir auf Englisch übersetze, dass du gerade im ICE zum Frankfurter Flughafen sitzt, dein Flieger aber in zwei Stunden ab Köln fliegt.
Sterben ist Alltag. Das klingt polemisch aus meinem westlichen Bilderbuch-Mund. Ich habe mich jetzt ein Semester mit Sterben, Tod, Totsein, Sterblichkeit und dem Sinn des Lebens abgegeben. Ich empfinde mich als enorm privelegiert. Gerade lebe ich, atme Leben aus und ein, laufe durch die Gegend und schlampamse vor mich hin. In der Bildungsanstalt, die ich besuche, um später mit meinem Abschluss winken zu können, ein amerikanisch-glückliches Doktorhütchen in die Luft werfen zu können und dann ein bisschen gutes Geld zu verdienen, darf ich mich mit dem Tod beschäftigen. Ich darf.
Die Welt schreit Tod und Verderben, Millionen Menschen machen sich auf, dem zu entfliehen oder hinein zu fliehen und ich sitze im Raum am Ende des Flurs am Fenster und suche Prämissen und Konklusionen, Thesen und Antithesen, die verschiedene Theorien von Tod und dem Sinn des Lebens im Kern ausdrücken. Der mit dem Schlafzimmerblick fragt, ob ich das Fenster aufmachen könnte. „Punks not dead“, sagt sein T-Shirt. Ich schmunzele in mich hinein. „Dein Shirt“, murmele ich total eloquent. „Das Fenster.“, antwortet er. Als der Dozent kommt, reden wir darüber, ob das Leben eines Pianisten sinnvoller ist, als das eines Typen, der sein ganzes Leben damit verbringt, seine Exkremete zu essen. Danach geht es noch um den Sinn von Hitlers Leben und ich bin dankbar, dass ich ein Fach studiere, in dem mit Hitler mal nicht alle Diskussionen beendet sind und es nicht verpönt und nazifaschistenscheiße ist, darüber nachzudenken, nach welchen Kriterien Hitler ein sinnvolles Leben gehabt hat. Die Kunst ist Sachlichkeit. Ich dachte mal, Sachlichkeit wäre Selbstverständlichkeit, aber dann kam die Kommentarfunktion von Facebook und zeigte ihren braunen Stinkefinger. Mief.
Ich muss wieder an den Fisch denken. Wie wir da so am Strand standen und die kleinen grauen Wellen um unsere Gummistiefel brachen. Du hieltest Vorträge, wie du das so machst. Wir überlegten, was den Fisch getötet haben könnte. Später musste ich noch ein bisschen weinen. Ich hatte Sand in die Augen bekommen. Aber das Weinen gilt nicht so wie das, was einen bei Totem überkommt. Ich habe eigentlich überhaupt keine Ahnung von Tod. Auch wenn ich schon ziemlich viel Totes gegessen habe und jetzt zig Theorien kenne über Tod und das, was uns davon abhält uns in den Tod zu stürzen. Manchmal fühle ich mich so sandig gegenüber all diesen riesigen Gedanken. Mein Sandkopf kann dann überhaupt keine eigene epische Idee zu meinem eigenen kleinen Sinn des Lebens denken. Wann gilt der überhaupt? In der siebten Klasse bestand mein Sinn des Lebens vielleicht darin, dass der eine Typ in meiner Klasse wenigstens einmal zu mir rüber geguckt hat. Bis ich mir dann eingestehen konnte, dass der Blick eigentlich meiner Freundin galt. Es hat ein bisschen gedauert, dann war dieser Sinn abgeschafft. Nächster. Das war dann vielleicht ein Stück auf diesem Mädcheninstrument so spielen, dass es klingt, schön klingt und Leute sagen, dass es schön klingt. Auch das hat funktioniert. War mein ganzes Leben dann erfüllt? Abgefüllt mit Sinn? Hacksinndicht? Nö. Ich sag nö. Und Eierplätzchen in Kaffee tunken, auch wenn ich das jeden Tag tät, es gäbe mir nicht den Sinn. Und am Eierplätzchen mit einem Kaffee sitzen und Hunde zählen, das macht das Leben auch nicht voll mit Sinn und wenn dir die Sonne ins Gesicht scheint. Ich glaub, fürs erste brauche ich keine epische Antwort auf die Sinnfrage. Das Ganze lebt sich so auch ganz gut. Es gibt immer noch so was wie die Schönheit des Fischkopf. Wen juckt die Eleganz des Igels, wenn sie die Schönheit des Fischkopfs haben kann.

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